Die Politik hat großen Spielraum, aber nicht auf dem Rücken der Kinder
Zu den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse.
Vieles kann, nicht alles muss. Auf diese kurze Formel lassen sich die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur sog. Bundesnotbremse zusammenfassen.
Zur Erinnerung: Mit der gesetzlichen Bundesnotbremse hatte die große Koalition tiefe Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger im April 2021 beschlossen. Der Lockdown reichte von der Schließung der Kunst- und Kultureinrichtungen, über schulischen Distanzunterricht , Online-Studium und weitgehende Kontaktbeschränkungen bis zu nächtlichen Ausgangssperren. Alle diese Maßnahmen zur Bekämpfung der damaligen Infektionslage wurden vom Bundesverfassungsgericht als verhältnismäßig und damit verfassungskonform bewertet.
Vieles geht also in Pandemie-Krisenzeiten. Die Politik hat einen weiten Handlungsspielraum und in Zeiten der Ungewissheit über die Entwicklung der Infektionslage reichen die Möglichkeit der Überlastung des Gesundheitssystems und die überragenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Menschen aus, um Freiheitsrechte zu beschränken. Da war Karlsruhe sehr deutlich.
Das Grundgesetz steht vielen Notbremse-Maßnahmen zwar nicht entgegen, es macht aber auch keine Vorgaben, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Entgegen Erwartungen und auch Hoffnungen aus der Politik gibt es keine konkreten Handlungsanweisungen und keine klaren Leitplanken zur Begrenzung der Grundrechtseingriffe. Alles unterliegt der Abwägung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Die Pandemiebekämpfung darf nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Das macht das Bundesverfassungsgericht sehr deutlich.
Die veröffentlichten Beschlüsse sind keine Blaupause für Antworten auf die heutige Pandemielage. Sie beziehen sich ausdrücklich auf die Situation im April 2021. Das ist der Streitgegenstand. Jede neue Lage erfordert auch eine neue Bewertung.
Mit diesem großen Handlungsspielraum geht die große Verantwortung der Politik einher. Sie muss entscheiden. Sie muss die richtigen Schwerpunkte setzen und die richtigen Abwägungen vornehmen. Da kann sie die Begründungen in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zu Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen nachlesen. In äußersten Gefahrenlagen hält das Bundesverfassungsgericht sie für ein angemessenes Mittel. Aber sind sie heute zweckmäßig, geeignet und erforderlich? Für alle Bürgerinnen und Bürger, obwohl knapp 70 Prozent geimpft sind? Berechtigte Zweifel sind angebracht, denn es gibt mildere Mittel wie möglichst evidenzbasierte Einschränkungen nach den Vorgaben „3 G“ und „2 G“ oder gar „2 G Plus“. Die Politik ist bei der Pandemiebekämpfung zur andauernden Suche nach dem mildesten Mittel in einem wirksamen Gesamtschutzkonzept verpflichtet. Und deshalb muss ständig überprüft werden, ob die angeordneten Maßnahmen auch wirklich wirksam sind. Aufgrund dieses Evaluierungsvorbehalts müssen Maßnahmen auch immer zeitlich befristet werden.
Lautstarke Jubelrufe von der Seitenlinie, die nun eine Neuauflage der Bundesnotbremse fordern, sind unverständlich und fehl am Platz. Die Sachlage hat sich eben deutlich geändert. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich, dass es pauschale Maßnahmen über einen langen Zeitraum nicht mehr geben kann. Heute weiß man mehr über das Virus als im Frühjahr dieses Jahres. Aber auch die Unsicherheitsfaktoren - wie neue Virusvarianten -sind andere. Besonders deutlich wird dieser Wissensvorsprung bei der Behandlung von Geimpften und Ungeimpften. Wir wissen, auch wenn nicht bis ins letzte Detail, dass der Beitrag Geimpfter zur Verbreitung des Virus geringer ist und sie wegen des Impfschutzes weniger zu einer Belastung des Gesundheitssystems beitragen. Sie erleiden seltener schwere Krankheitsverläufe. Diesen neuen Erkenntnissen muss die Politik Rechnung tragen. Pauschale Maßnahmen, wie bundesweit einheitlich angeordnete Lockdowns auch für Geimpfte, werden dem nicht gerecht.
Die Pandemiebekämpfung darf nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Das macht das Bundesverfassungsgericht sehr deutlich. Erstmals definiert es aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 Grundgesetz ausdrücklich ein Recht der Kinder auf schulische Bildung. Schon allein das ist eine kleine Sensation und sollte jenen, die sehr schnell die Schließung der Schulen fordern, eine Lehre sein. Eine rote Karte zeigt Karlsruhe in diesem Zusammenhang insbesondere den Ländern. Einschränkungen des Präsenzunterrichts und damit ein Eingriff in das Recht der Kinder auf schulische Bildung sind nur dann verhältnismäßig, wenn sie durch funktionierenden Distanzunterricht und nicht nur durch Angebote von Unterrichtsmaterialien ausgeglichen werden. Dafür ist der Bund nicht zuständig, deshalb war ihm der akute Bildungsnotstand in manchen Regionen auch nicht anzulasten. Die Sicherung eines Mindeststandards an schulischer Bildung in der Pandemie (über Distanzunterricht) ist Aufgabe der Länder. Mangelnde finanzielle Ausstattung oder organisatorisches und persönliches Unvermögen sind keine Ausreden, die das Gericht gelten lässt. Home Schooling hat zu funktionieren. Da ist der Maßstab heute ein anderer als im April 2021.
Die Beschlüsse aus Karlsruhe werden hoffentlich als das wahrgenommen, was sie sind:
- Zum einen die Erinnerung daran, dass Politik sorgfältig abwägen und sich ständig auf dem aktuellen, wissenschaftlichen Kenntnisstand halten muss. Das bedeutet auch, dass eine unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Ungeimpften sehr wahrscheinlich geboten ist und von einer Privilegierung Geimpfter keine Rede sein kann.
- Zum anderen die Mahnung, dass der Staat bei sehr tiefen Eingriffen wie Schulschließungen auch für eine Kompensation sorgen muss. Flächendeckende Notbetreuung und funktionierender Distanzunterricht sind keine Kür, sie sind staatliche Pflicht.
- Und die Aufforderung, immer nur die Maßnahme zu wählen, die zur Erreichung des legitimen Ziels wie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und des Schutzes von Leib und Leben das mildeste Mittel ist. Hygienekonzepte, Luftfilter in Schulen, verpflichtende Tests und natürlich das Impfen sind grundsätzlich - immer unter Beachtung des Infektionsgeschehens - Schulschließungen und massiven Kontaktbeschränkungen vorzuziehen.