Wir müssen mit dieser Pandemie leben lernen
Noch sind die Inzidenzwerte in Deutschland vergleichsweise niedrig – aber: sie steigen. Während die Fußball-EM soeben vorübergegangen ist und die Urlaubszeit beginnt, bangen viele schon jetzt, dass eine mögliche vierte Welle nach den Ferien das Alltagsleben wieder einbremsen könnte.
“Verändert die Pandemie die Gesellschaft?” fragte Akademiedirektor Udo Hahn am 7. Juli 2021 in einer Online-Debatte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Christiane Woopen.
Wann ist ein Ende der Corona-Schutzmaßnahmen in Sicht? Am Tag der Online-Debatte “Verändert die Pandemie die Gesellschaft?” mit der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Medizinerin und Ethik-Expertin Prof. Dr. Christiane Woopen hatte gerade erst ein Interview mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für einen Dämpfer gesorgt. Im Deutschlandfunk hatte er gesagt, dass die AHA-Regeln wohl noch bis in den Herbst hinein gültig bleiben könnten – auch für Geimpfte. Damit sprach er sich gegen den Vorschlag seines Kabinettskollegen, Bundesaußenminister Heiko Maas, aus, der kurz zuvor dafür plädiert hatte, alle bestehenden Corona-Auflagen aufzuheben, sobald alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot erhalten hätten.
Doch wann genau könnte das sein? Und wie soll es gehen „allen Menschen“ ein Impfangebot zu machen, wenn Kinder noch nicht geimpft werden dürfen und es für Jugendliche noch keine Stiko-Empfehlung gibt? Und bedeutet “Impfangebot erhalten”: “einmal geimpft”, “zweimal geimpft” oder gar “Angebot erhalten, Impfung abgelehnt”?
Darauf angesprochen, sagte die frühere Vorsitzende des Europäischen Ethikrats Woopen, Maas habe mit seinem Statement einen “Bock geschossen”. Die Pandemie sei “noch lange nicht vorbei”, vor allem vor dem weltweiten Hintergrund. Sie sei sich sicher, dass die Menschen mit der “Pandemie leben lernen müssen”. Angesichts niedriger, aber steigender Inzidenzwerte in Deutschland wies sie darauf hin, dass Medien und Öffentlichkeit lernen müssten, umzudenken: Neben den Inzidenzwerten werde es sinnvoll sein, weitere Indikatoren wie etwa die Belastung des Gesundheitssystems oder auch Sterblichkeitsrate als Bemessungsgrundlage für Regelungen zum Infektionsschutz mit einzubeziehen.
“Wir haben eine solche Situation in Deutschland noch nie erlebt.”
Hygieneregelungen beibehalten, aber keine Beschränkungen der Grundrechte lautet das Votum, das Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an dem Abend abgibt. “Wir müssen alles tun, um nicht in einen vierten Lockdown reinzukommen”, sagte die frühere Bundesjustizministerin und FDP-Politikerin.
Sie wies auf die Prämisse der Verhältnismäßigkeit hin, die jeder gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegen sollte. Wie tief geht ein rechtlicher Eingriff in die Grundrechte? Wie lange dauert er an? Dass es freiheitliche Einschränkungen über Monate gebe, dürfe nicht sein. Viele Klagen habe es deswegen in den Verwaltungsgerichten der Regionen gegeben, die zum Teil abgewiesen wurden, denen aber in manchen Fällen auch stattgegeben wurde. Fakt sei: “Wir haben eine solche Situation in Deutschland noch nie erlebt.”
Leutheusser-Schnarrenberger fordert, die Kollateralschäden vor allem in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zukünftig mehr zu gewichten. Sie erinnerte an Rufe von Kinderpsychologen, die vor den gravierenden, teilweise traumatischen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen in der Ausbildung warnen. Einen ausschließlichen Distanzunterricht dürfe es auf keinen Fall mehr geben.
Christiane Woopen ist Geschäftsführende Direktorin des ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health), einem Zentrum für die interdisziplinäre Forschung, Aus- und Fortbildung sowie Beratung zu gesellschaftsrelevanten Fragen im Bereich der Gesundheit. Von 2017 an bis zum Mai 2021 war sie Vorsitzende des die Europäische Kommission beratenden Europäischen Ethikrates. Sie war auch Teil des interdisziplinären “Experten-Rats Corona”, den Armin Laschet im April 2020 einberief, um Expertise aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zu bündeln und ein “breites Spektrum an Lebenswirklichkeit abzubilden”, wie Woopen es beschreibt.
Lebenslange soziale Folgen
Sie sei “ein bisschen sauer” darüber, wie die Politik auf Bundesebene die vielen Lösungsstrategien und Stellungnahmen ignoriert habe, die auf soziale Implikationen hingewiesen haben. Es sei “nicht mehr nachzuvollziehen, dass man jetzt den zweiten Schulstart verpennt und die Jugendlichen weiter nicht in den Bick genommen werden.” Sie empfiehlt dringend, die Bertelsmann-Studie zur Situation der Jugendlichen zu lesen, die die Bildungsdefizite durch den Corona-Lockdown eindrücklich beschreibt.
Die sozialen Folgen von geschlossenen Schulen seien drastisch: Mangelnde Bildungserfahrungen bei Kindern in prekären Lebensverhältnissen hätten lebenslange Folgen, manchen Kindern fehlte nicht nur das tägliche Mittagessen in der Schule, sondern sie waren auch vermehrt Opfer von Gewalt und Missbrauch. “Hier geht die soziale Schere noch einmal pandemiebedingt auf”, so Woopen.
Aber auch die Demokratie hat während Corona Schaden genommen, so eine weitere Feststellung des Abends. Die Parlamente seien nicht ausreichend an den Maßnahmen beteiligt worden, klagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Zugleich seien die Feinde der Demokratie mehr geworden. Angriffe von Rechtspopulisten auf Multilateralisten hätte etwa internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO geschwächt, Terrororganisationen seien weltweit mächtiger geworden, vermögende Superreiche noch reicher und die Ärmsten der Armen müssten mit noch weniger Geld und Nahrung als vorher auskommen.
“Zutiefst erschütternd” sei die Verteilung des Impfstoffs weltweit, sagt Christiane Woopen und “beschämend” die mangelnde Bereitschaft der reichen Länder, Impfstoff abzugeben. Es gebe Länder in Afrika, berichtet Woopen, die noch zwei Jahre auf Impfstoff werden warten müssen.
Bei allem, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, sei die gesellschaftliche Debatte nicht leichter geworden, so Woopen. Leutheusser-Schnarrenberger sieht den Rechtfertigungsdruck hier “klar bei der Politik”. Dass die Welt durch die Corona-Krise sozialer und gerechter werde, bezweifelt sie stark. Die Solidarität, die unsere Welt brauche, werde nicht durch die Pandemie erreicht werden.
Woopen ist dafür, die Fragen, die nun wie unter einem Brennglas klar geworden sind, klug aufzuarbeiten. Dazu brauche es eine neue Debattenkultur – und auch eine neue Kultur des Zuhörens. “Krise” käme schließlich aus dem Griechischen und bedeute “Entscheidung”.
Text: Dorothea Grass / Quelle: Evangelische Akademie Tutzing