„Unsinn darf man auch lauthals sagen“
Warum Freiheit nicht Rücksichtslosigkeit bedeutet, erläutert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Interview mit der Wirtschaftswoche. Und dass die Angst vor der Pandemie nicht unsere Freiheit gefährden darf.
Freiheit ist nicht gleich Rücksichtslosigkeit, sagt die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Ein Gespräch über Hygienedemos, Ausstiegsdebatten und Corona-Karrieren.
WirtschaftsWoche: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, was sagen Sie als entschiedene Verfechterin der Grundrechte zur Teilnahme des Thüringer FDP-Chefs Thomas Kemmerich ohne Mundschutz und Distanz an einer Demo gegen Corona-Beschränkungen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass Herr Kemmerich, der auch als Politiker verantwortungsbewusst zu handeln hat, sich derartig über Auflagen hinwegsetzt und das öffentlich demonstriert. Das ist ein ganz schlechtes Vorbild, da kann man sich nur lauthals distanzieren.
Sollte er die Partei verlassen wie verschiedentlich gefordert?
Von meinem Verständnis von liberaler Politik geht kein Weg hin zu dem, was Herr Kemmerich da vertritt und auch vorher mit seiner falschen Kandidatur als Ministerpräsident mit AfD-Unterstützung in Thüringen zum Ausdruck gebracht hat. Ob er austritt oder nicht – es muss klar sein, das ist nicht die FDP.
Er würde Ihnen vielleicht den Titel Ihres voriges Jahr veröffentlichten Buches entgegen halten: Angst essen Freiheit auf.
Freiheit heißt ja nicht, dass man sich rücksichtslos verhält und damit andere gefährdet. „Angst essen Freiheit auf“ bedeutet natürlich, dass Menschen in Krisensituationen eher bereit sind, für eine befristete Zeit auch Einschränkungen dieser Freiheit hinzunehmen. Das muss man immer kritisch begleiten und hinterfragen. Aber Freiheit so zu leben und andere damit bewusst zu gefährden, das ist nicht mein Freiheitsverständnis.
Gibt es eine Grenze für die kritische Debatte über Freiheitsbeschränkungen?
Die rechtliche Grenze gibt es ganz klar: Wenn ich beleidige, wenn ich aufhetze gegen Gruppen in unserer Gesellschaft, dann ist das nicht mehr erlaubt. Auch Versammlungen, wo dies geschieht, muss man verbieten oder hinterher auflösen können. Aber die Bandbreite, bis das erreicht ist, ist sehr groß. Unsinn darf man auch lauthals sagen.
Die Empfänglichkeit der Bürger scheint aber auch dafür zu steigen.
Es ist erschreckend, wie das Bestreben von Menschen nach Freiheit von Verschwörungstheoretikern benutzt wird, für Überzeugungen aus dem rechtsextremen, aber auch aus dem linken Spektrum. Das ist eine gefährliche Entwicklung.
Wie erleben Sie persönlich die Einschränkungen?
Lange Zeit keinen Kontakt zu Freunden gehabt zu haben, das ist schon einschneidend. Das habe ich für eine gewisse Zeit aber auch verstanden. Trotzdem war meine Einstellung von Anfang an: Wenn man eine derart massive Beschränkung des gesamten Lebens und Verhaltens anordnet, dann muss man von Anfang mitdenken, unter welchen Bedingungen der Ausstieg aus diesen Beschränkungen gelingt. Das ist mir zu wenig erfolgt. Da fand ich es auch nicht zielführend, dass diejenigen, die sich darüber nicht leichtsinnig Gedanken machten, gleich in eine orgiastische Ecke gestellt wurden.
Während einerseits laute Rufe nach mehr Lockerungen ertönen, erreicht Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mit seiner Strenge höchste Popularität – in ganz Deutschland. Wie erklären Sie sich das?
Ich denke, bei vielen Menschen kommt eine klare Linie gut an und eine verständliche Erklärung. Sie wollen wissen, woran sie sind, wenn sie vielleicht auch nicht jede einzelne Entscheidung teilen. In dem Moment, wo man differenziert – und Rechtstaat heißt eigentlich immer differenzieren – ist das schwieriger. Da wird man nicht als entscheidungsstark und durchsetzungsfähig anerkannt.
Ist das ein Problem für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet?
Ich habe den Kurs von Herrn Laschet immer für den richtigen gehalten. Tue das nach wie vor. Aber das Verständnis dafür braucht einfach mehr Zeit. Zu Anfang war die Angst so groß, dass die Bürger sich sicherer durch noch mehr Beschränkungen fühlten. Eine etwas absurde Vorstellung für jemanden, der Freiheit liebt und verteidigt. Da waren alle, die gleich mit der Beschränkung die Öffnung wieder mitgedacht haben, eher im Hintertreffen.
Herrn Söder ist das Kanzleramt also noch nicht sicher?
Nee, (lacht) aber er hat eindeutig politisch für die CSU und als Person durch diese Krise an Ansehen gewonnen.
Das Interview erschien am 12. Mai in der WirtschaftsWoche und ist online auch hier zu finden.