Ein Rechtssystem ohne unabhängige Anwälte ist kein Rechtsstaat
In der Türkei sind Anwälte wegen ihrer Arbeit massiver Verfolgung ausgesetzt. Die Bundesregierung sollte alles in ihrer Macht Stehende gegen die Rechtsstaatsverletzung tun, in Verhandlungen Verbesserungen einfordern und die Gerichtsverfahren beobachten, fordert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Rechtsstaatlichkeit ist nur dann gewährleistet, wenn auch Anwältinnen und Anwälte die Verteidigung ihrer Mandanten ohne jegliche staatliche Beeinträchtigung ausüben können. Der freie Berufsstand von Verteidigern ist von enormer Bedeutung für jede Bürgerin und jeden Bürger eines Staates. Stehen sie doch ein für die Rechte von Angeklagten und die Durchführung fairer Verfahren. Doch weltweit werden immer mehr Anwältinnen und Anwälte selbst Opfer staatlicher Verfolgung.
In der Türkei wurden seit 2016 1.500 Anwälte angeklagt und davon rund 605 verhaftet. 334 Anwälte wurden schließlich zu insgesamt 2086 Jahren Gefängnis verurteilt, wie die Nichtregierungsorganisation „Arrested Lawyers Initiative“ erst im Dezember berichtete. Alle Anwälte wurden wegen terroristischer Straftaten angeklagt. Beim Blick auf Artikel 314 des türkischen Strafgesetzbuches erscheinen die hohen Fallzahlen noch willkürlicher, denn eine konkrete rechtliche Definition zur Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation gibt es nicht. Staatsanwaltschaft und Richter haben einen breiten gesetzlichen Interpretationsspielraum.
Türkische Anwälte sind besonders dann gerichtlichen Schikanen ausgesetzt, wenn ihnen vorgeworfen wird, die politische Haltung ihrer Mandanten zu teilen. Die Verfolgung von Anwälten trifft ihre Mandanten unmittelbar. Nicht nur die Waffengleichheit im Verfahren und das Vertrauensprinzip zwischen Mandanten und Verteidigern sind gefährdet. Durch die Verfolgung von Rechtsanwälten kann der Rechtsschutz für Beschuldigte vollkommen ausgehebelt werden.
Seit einem Präsidentendekret können die gewählten Präsidien von Rechtsanwaltskammern und –Vereinigungen in der Türkei jederzeit wieder abgesetzt werden. Die Vereinigungsfreiheit von Anwälten ist dadurch verletzt. Dabei sind Anwältinnen und Anwälte wichtige praktizierende Teilhaber am demokratischen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Sie sind Fürsprecher ihrer angeklagten Mandanten. Wer Anwälte schikaniert und strafrechtlich verfolgt, hat sich längst von der Rechtsstaatlichkeit abgewandt.
Die Bundesregierung sollte alles in ihrer Macht Stehende gegen diese Rechtsstaatsverletzung tun, in Verhandlungen Verbesserungen einfordern und die Gerichtsverfahren beobachten. Etwaige Abstimmungen zu einer modernisierten Zollunion mit der Türkei müssen die Mitglieder der Europäischen Union unbedingt an rechtsstaatliche Prinzipien und eine unabhängige Justiz in der Türkei knüpfen. Alle europäischen Programme zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit müssen auch die Unabhängigkeit von Anwälten bedenken, um dazu beizutragen, dass Anwälte nicht verfolgt werden.